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Eugène Delacroix in Saint-Sulpice: Musik für das Auge

  • Autorenbild: Ruth Lintemeier
    Ruth Lintemeier
  • 19. Juni
  • 5 Min. Lesezeit

In meinem Kunstgeschichtsstudium zählte Eugène Delacroix zu jenen Künstlern, die mich tief beeindruckten. Nicht allein sein offensichtlicher Bruch mit den vorherrschenden Konventionen, sondern seine expressive Bildsprache, seine unbändige Emotionalität und dynamische Malweise fesselten mich. Dieser Eindruck erwacht nach Jahrzehnten plötzlich zu neuem Leben, als wir in der Dämmerung eines späten Dezembertages die spärlich beleuchtete Kirche Saint-Sulpice im sechsten Arrondissement betreten:

 

Ein neugieriger Druck auf den Lichtschalter beim Eingang zur Chapelle des Saints-Anges lässt sie erstrahlen – drei monumentale Gemälde von Eugène Delacroix: Jakobs Kampf mit dem Engel, die Vertreibung Heliodors aus dem Tempel und den Erzengel Michael, der den Dämon besiegt. Ein existenzieller Kampf auf Leben und Tod, zugleich körperlich und seelisch, verbindet alle drei Darstellungen.

 

Delacroix kämpft noch einmal mehr mit diesem Ort: Die Wände der Kirche sind feucht und kommen seiner Maltechnik des farbzerlegenden Auftrags nicht entgegen. Er arbeitet mit «hachures», mit parallelen und sich kreuzenden kurzen pastosen Serien von Strichen, durch die erst Farbtöne und Schattierungen entstehen. Die sogenannten Enkaustikmalereien werden nicht nur mit Farbe, sondern mit einer Mischung aus Pigmenten, Leinöl und geschmolzenem Wachs hergestellt. Diese Zutaten mischt Delacroix auf der Palette und trägt sie anschließend auf die Wände auf. Die Bemalung der Decke ist für Delacroix eine Herausforderung, die sein Assistent Pierre Andrieu durch eine Maroulflage löst: Er befestigt eine Leinwand mit einem Kleber aus weißer, in Öl gemahlener Bleifarbe auf der Deckenwand. Auf dieser wird anschließend die Farbe aufgetragen.


Der Erzengel Michael besiegt den Dämon
Der Erzengel Michael besiegt den Dämon
Jakobs Kampf mit dem Engel (linke Seite)
Jakobs Kampf mit dem Engel (linke Seite)

In Saint-Sulpice wird sichtbar, welche technische Revolution in der Malerei Delacroix vollzieht. Er setzt die Farben direkt nebeneinander auf die Leinwand: So entsteht Grün durch das Nebeneinandersetzen vom blauen und gelben Strichen – beim Sehen entsteht die eigentliche Farbe, weil die Einzelfarben vermischen. Es entsteht ein unvergleichliches Leuchten, das die auf einer Palette gemischten Farben nie haben können.


Delacroix lässt jeden Pinselstrich sichtbar werden. Die Pinselspuren zeigen die Bewegung seiner Hand, den Rhythmus seines Malens. Seine Konturen entstehen durch Farbgrenzen – wo Rot auf Blau trifft, entsteht die Linie. Das macht seine Figuren lebendig und gibt ihnen eine eigene Dynamik.


Die Vertreibung Heliodors aus dem Tempel (rechte Seite)
Die Vertreibung Heliodors aus dem Tempel (rechte Seite)

Den Auftrag für dieses Projekt erteilt die Stadt Paris 1849 an Delacroix. Bis zur Umsetzung vergehen aber noch Jahre. Denn Delacroix ist umtriebig, und die Vorbereitungen sind umfangreich: So entstehen zahlreiche Bleistift- und Ölskizzen, zuvor werden Tests zum Verhältnis der komplementären Farbbeziehungen durchgeführt. Bevor Delacroix mit den Arbeiten in Saint-Sulpice beginnt, lässt er seinen Assistenten die Wände mit kochendem Öl tränken, da er befürchtet, die Feuchtigkeit könne die Werke beschädigen.

 

Delacroix ist über 60 Jahre alt, die Arbeit auf den großen Wand- und Deckenflächen ist ein tägliches Ringen um Licht und Schatten, Raumtiefe und Atmosphäre – und sie tut ihm gut! Eugène Delacroix zieht am 28. Dezember 1857 in die Rue de Furstemberg und gibt sein Atelier in der Rue Notre-Dame-de-Lorette auf, um ganz in der Nähe von Saint Sulpice zu wohnen. Am 12. Januar 1861 schreibt er an George Sand (nachfolgend eigene Übersetzung auf Basis des englischen Abdrucks auf der Website des Musée Delacroix, Paris):

 

«Seit mehreren Monaten gehe ich einem Beruf nach, der mir die Gesundheit zurückgegeben hat, die ich verloren glaubte. Ich stehe morgens auf, renne zur Arbeit außer Haus, komme so spät wie möglich nach Hause und fange am nächsten Tag wieder an. (…) Nichts bezaubert mich mehr als die Malerei, und siehe da, zu allem Überfluss verleiht sie mir die Gesundheit eines Mannes von dreißig Jahren.»

 

Delacroix arbeitete von 1854 bis 1861 an diesem Mammutprojekt. Der lange Zeitraum erklärt sich durch wiederkehrende Unterbrechungen, die anderen Aufträgen geschuldet waren – etwa der Gestaltung des Deckengemäldes in der Galerie d'Apollon des Louvre.

 

Die Enkaustikmalereien verzaubern uns mit ihrem Farb- und Linienspiel. Blicken wir zur Decke empor, sehen wir Delacroix auf seinem Gerüst stehen, den Arm mit dem Pinsel erhoben. Er arbeitet gerne sonntags in Saint-Sulpice – die Musik der heiligen Messe versetze ihn in einen Zustand der Erregung, die dem Malen förderlich sei, schreibt er zu Beginn des Projektes in sein Journal.

 

Ein Blick auf das leuchtende Spiel der Farben
Ein Blick auf das leuchtende Spiel der Farben

Während seiner Arbeit empfängt Delacroix vermutlich Besuch, auch wenn dies nicht dokumentiert ist: Charles Baudelaire wurde in Saint-Sulpice getauft und bewundert den Maler zutiefst. Die beiden sind Seelenverwandte, die sich über zwanzig Jahre hinweg gegenseitig schätzen. Eine starke innere Leidenschaft verbindet sie, die sich in ihren jeweiligen Werken widerspiegelt.

 

Delacroix' kühne, oft ungemischte Farben und sein Spiel mit Komplementärkontrasten faszinieren Baudelaire. Er erkennt, dass diese Farbsprache pure Emotion transportiert. Er versteht, dass Delacroix' Malweise seinen Versen gleicht – beide haben einen inneren Puls, eine eigene Dynamik. Sie sind unmittelbare Emotionen, verdichtet zu Sprache und Farbe.

 

Baudelaire ist es auch, der wenige Monate nach Vollendung des Projektes im Spätsommer 1861 einen Beitrag voll des Lobes für die «Revue Fantaisiste» verfasst. Wir stellen uns gerne vor, wie Delacroix und Baudelaire in der Chapelle des Saints-Anges stehen und über Farbkomposition, Technik und Linienführung diskutieren. Wer weiß? Wir geben uns gerne der Vorstellung hin, dass Baudelaire voller Eindrücke aus der Kirche gestürmt ist und draußen auf den Treppenstufen seiner Begeisterung freien Lauf gelassen hat: « Quel art magnifique ! C'est de la poésie pour les yeux ! »



Delacroix bedankt sich für den Beitrag in der «Revue Fantaisiste» mit einem Brief an Baudelaire. Dieser ist auf den 8. Oktober datiert und wird heute im Musée Delacroix in der Rue de Furstemberg aufbewahrt. Hier wohnte Delacroix während des Projektes – die Räumlichkeiten gehören heute dem Museum und beherbergen zahlreiche Bilder, Skizzen und Dokumente Delacroix‘.

 

Am 13. August 1863 stirbt Delacroix. Umgehend bringt Baudelaire seine tiefe Bewunderung für den Maler zum Ausdruck, der seiner Zeit so weit voraus war. Er erinnert in drei Artikeln an das Werk und Leben des Malers und schreibt voller Überzeugung an den Redakteur der «Opinion Nationale» (nachfolgend Zitat aus Eugène Delacroix: Mein Tagebuch, Zürich 1993):

 

« Nie (…) hat Delacroix ein Kolorit von solch herrlicher und kunstvoller Übernatürlichkeit entfaltet, nie eine Zeichnung von so ‘eigenwilliger‘ Epik. Ich weiß wohl, dass einige Personen, zweifellos ‘Banausen‘, vielleicht Architekten, bei Anlass des letztgenannten Werkes das Wort ‘Dekadenz‘ ausgesprochen haben. Es ist hier der Ort, daran zu erinnern, dass die großen Meister, Dichter und Maler, Hugo und Delacroix, ihren zaghaften Bewunderern immer um eine Anzahl Jahre voraus sind. Was das Genie betrifft, ist das Publikum eine Uhr, die nachgeht. »

 

Schweift unser Blick heute von den Wänden bis hinauf zur Decke, vermögen wir nur zu erahnen, welch bahnbrechendes Kunstwerk Delacroix mit diesen Enkaustikmalereien einst geschaffen hat.

 

Anhang

Für die Eröffnung der Kapelle Ende Juli 1861 wurden Karten gedruckt. Der Maler lud Gäste ein, sein eben vollendetes Werk zu bestaunen.


« M. Delacroix vous prie de vouloir bien lui faire l'honneur de visiter les travaux qu'il vient de terminer dans la chapelle des Saints-Anges à Saint-Sulpice. Ces travaux seront visibles au moyen de cette lettre depuis le mercredi 31 juillet jusqu'au samedi 3 août inclusivement, de 1 heure à 5 heures de l'après-midi. »


Eugène Delacroix fotografiert von Felix Nadar 1858
Eugène Delacroix fotografiert von Felix Nadar 1858

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